Die Farben des Würfels
Anfangs November, zu Allerheiligen und Allerseelen, wird die mexikanische Stadt Morelia zum Hauptort der Gabentische, der voller Hingabe, reichaltig und farbenfroh geschmückten Altare zu Ehren der lieben Verstorebenen.
Sie werden an diesen beiden Tagen mit Speisen und Getränken und mit gelben und lilafarbenen Blumen empfangen.
Plätze und Innenhöfe laden die Besucher mit übergrossen Totenköpfen, Blumenfeldern, Kerzen und festlich gekleideten Skeletten ein.
Die Museen widmen ihre Sonderaustellungen dieser traditionellen Feier zu Ehren des Todes und der Verstorbenen.
2010, zweihundert Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes, sind die meisten Altare im Haus der Kultur jenem Ereignis
gewidmet. Auf Bildern und als Puppen grüssen bekannte Helden und unbekannte Zeitgenossen jener Epoche die Lebenden, erinnern sie an das unausweichliche Ende und verspotten dennoch den Tod, diesen
hinterlistigen Gegenspieler, der die kleinste Schwäche, die kleinste Unaufmerksamkeit unnachgiebig ausnutzt, um die Lebenden zu besiegen.
Einer unter den Dutzenden von Altären ist jedoch Nahomi Hernàndez Mejìa gewidmet. Geboren am 5. Mai 1981, verstarb sie viel zu jung am 22. September 2010. Einer ihrer zahlreichen Asthma-Anfälle hatte ihr die letzte Lebenskraft geraubt; ihr Herz hatte keine Energie mehr, und es hauchte das Leben aus.
Nahomis kleiner Sohn begriff nicht, warum seine Mami jetzt nicht mehr bei ihm war, und sein Vater versuchte, ihm das Geschehene zu erklären:
„Schau’ mein Spatz: Alles, was einen Anfang hat, hat auch ein Ende“, sagte er dem Kleinen traurig.
Das Kind schaute seinen Vater lange und nachdenklich an und erwiderte schliesslich:
„Nein, Papi, das stimmt nicht. Der Rubik-Würfel, den mir Mami geschenkt hat, der hat kein Ende.“
Der Vater umarmte seinen Sohn und antwortete:
„Doch, der erreicht sein Ende, wenn Du die Farben des Würfels alle beisammen hast.“
Nachdenklich sagte das Kind:
„Dann ist der Tod also etwas Ähnliches wie alle Farben an den rechten Ort gerückt zu haben?“
Der Vater nickte leise und hielt den Kleinen fest in seinen Armen.
Er blickte aus dem Fenster. Die Abendsonne schien golden auf die Sandsteinmauern der Stadt und liess die gelben Blumen und alle Farben auf dem Platz ein letztes Mal aufleuchten.
Nun konnte er Abschied nehmen von Nahomi. Er verstand jetzt, dass sie ihre Farben fertig zusammengestellt hatte.
Er spürte das Haar seines Sohnes an seinem Kinn und er wusste, dass sie trotzdem immer bei ihm sein würde.
Dieter Bolliger
José Juan Gonzàlez Zamudio