Die Gralsburg (der Jungfrau-Mondknoten)

 

Jacob sass vornüber gebeugt in seinem Zelt. Leichte Regentropfen prasselten spielerisch auf das Stoffdach. Der Boden unter seinen Ledersandalen war feucht, aufgeweicht. Sorgenfalten durchfurchten seine Stirn, während er seinen Kopf leicht seufzend in die auf seine Knie aufgestützten Arme legte. Er fühlte sich einsam.

Vom Nachbarzelt hörte er das fröhliche Lachen der Kinder. Sie waren zufrieden, froh, nach einem langen Tag der Wanderung nun im Trockenen zu liegen und auf ihre Träume zu warten.

Jacob schaute sich in seinem Spiegel an. Er war älter geworden diese Tage.

Nicht die Wochen der Wanderung hatten ihn älter werden lassen, sondern die Gewissheit, dass sie mit jedem Tag näher ans Ziel gekommen waren.

Nun waren sie angekommen, hielten Rast vor der Gralsburg, übernachteten ein letztes Mal, bevor ihnen, von Jacob angeführt, Einlass in den verheissenen Ort gewährt würde.

Doch er wusste nicht, wie er das Tor dazu bringen konnte, sich zu öffnen. Er hatte schlicht nicht die geringste Ahnung. Er wusste schlicht nicht, was zu tun war.

So kurz vor dem Ziel war er der Verzweiflung nahe, grübelte lange, ohne Erfolg, bis er schliesslich in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

Ein wunderbarer Morgen brach an. Die Feuchtigkeit des Regens vom Vorabend hing in der Luft und machte das Atmen angenehm. Nebelschwaden schwebten über den Grasfeldern, über dem Moor und in den Baumwipfeln am Hügel dahinter. Die Sonne schien freundlich durch den dunstigen Himmel.

Jacob versammelte seine Leute. Die Gruppe zählte rund 360 Personen, Bauernfamilien mit vielen Kindern, Mägden, ein paar Handwerker, Korbflechter und Seiler, und einige Schafhirten.

Alle waren sie stolz, hier zu sein, stolz, von Jacob bis hierhin geführt worden zu sein. Sie vertrauten ihm fast blind, die Kinder schauten ihn mit grossen und leuchtenden Augen an. Er war ihr Held. Wie oft hatte er sie am Abend beim Lagerfeuer mit seinen Geschichten, seinen Abenteuern und Legenden, in den Schlaf geleitet.

Während er aus vollem Herzen erzählte, schaute er jeweils tief in die Augen der Kinder, beobachtete, wie ihre zufriedenen Gesichter in die fernen Welten der Abenteuer glitten, wie ihre Augenlider langsam schwerer wurden und wie sie schliesslich in den Armen ihrer Eltern glücklich einschliefen.

Alle liebten sie ihn dafür, und weil er sie hierhin gebracht hatte und sie schliesslich in die Gralsburg führen würde.

 

Jacob führte die Gruppe an, als sie von der Zeltstatt den breiten, aufgeweichten Weg zur Burg unter die Füsse nahmen. Sie sahen das mächtige Bauwerk auf der Anhöhe vor ihnen, wagten kaum, es anzuschauen. Der Weg führte in sanften Kurven hinauf bis zum riesigen Holztor der Burg. Links und rechts des Tores standen zwei mächtige, breite Türme, die leicht höher waren als die Schutzmauer an der Vorderfront der Burg. Auf beide Seiten hin verlief die Mauer zu schlanken, runden Ecktürmen. Hinter der Schutzmauer konnte man den Bergfried, ein Wohngebäude, ein Kloster und dahinter weitere Türme erkennen.

 

Je näher sie der Burg kamen, desto mächtiger schien Jacob das Tor zu werden. Mit jedem Schritt schien es ein par Zoll anzuwachsen, sein Holz mächtiger und dicker zu werden.

Erwartungsfroh schauten ihn alle an, als er vor das Tor stand und klopfte. Es war bestimmt an die fünfzehn Meter hoch, und er stellte fest, dass nicht einmal er selbst sein Klopfen hatte hören können. Zu dick war das Holz. Hilflos versuchte er das Tor aufzustossen, es bewegte sich keinen Millimeter. Er rief, so laut er konnte, bat um Einlass, wollte die Bewohner der Burg wissen lassen, dass sie nun hier waren.

Doch nichts geschah.

Er wandte sich um und sah die Gesichter der Frauen und der Kinder. Sie bemerkten seine Unsicherheit, seine Hilflosigkeit nicht. Im Gegenteil, aus ihren Mienen sprach Vertrauen und Überzeugung. Als wüssten sie genau, dass sich ihnen das Tor öffnen würde. Doch Jacob war sich nun sicher: Er hatte versagt. Er hatte sie auf diesem langen Weg geführt, hatte ihnen den Weg gewiesen, nur um nun mit ihnen feststellen zu müssen, dass es keinen Einlass in die Burg gab. Er fühlte sich schwach, müde, verloren.

Verzweifelt hob er die Hände und teilte der Gruppe mit, dass er nicht wisse, wie sich dieses mächtige Tor öffnen liess. Er entschuldigte sich, und sagte, dass er nicht weiter wisse. Aber niemand schien ihm zu glauben, niemand, ausser ihm selbst, schien zu zweifeln.

 

Da trat ein einfacher Bauer zu ihm und umarmte ihn. „Schau“, sagte er, und deutete auf  seine Kameraden. die eine Handkarre bei sich führten. Sie hoben dicke Tücher aus der Karre, auf denen Kartoffeln, Rüben und Getreidegarben lagen.

Ein weiterer Bauer trat vors Tor und rief laut: „Lasst uns bitte herein! Seht, wir bringen Nahrung mit.“

Da öffnete sich das Tor langsam. Ein gepflasterter Vorplatz wurde sichtbar, er war mit farbigen Banderolen geschmückt. Fröhliche Musik ertönte leise, sie lud die Gruppe ein, durch das Tor zu treten.

Langsam schritten sie voran, alle umarmten sie den stillen Jacob, gab ihm die Hand, schaute ihm dankbar in die Augen, bevor sie eintraten.

 

Nun begriff er. Er würde die Burg nicht betreten. Es war seine Aufgabe gewesen, die Menschen bis hierhin zu führen, aber er selbst würde nicht eintreten. Erst jetzt erinnerte er sich daran, dass er die Gralsburg bereits kannte, dass er vor langer Zeit ja hier gelebt hatte. Erst jetzt verstand er, dass er diesmal draussen bleiben musste.

Die Kinder lächelten leise. „Wir werden Dich besuchen“, sagten sie, als sie sich von ihm verabschiedeten.

„Ja“, erwiderte Jacob. „Ihr werdet mich besuchen. Ich werde auf Euch warten“.

Als alle 360 Personen eingetreten waren, begann das Tor, sich langsam wieder zu schliessen. Jacob schaute auf den Vorplatz, solange es ging, und winkte seinen Freunden. Sie winkten zurück, lachten, sangen, riefen ihm etwas zu.

Als sich das Tor geschlossen hatte, war alles ruhig. Der weiche Boden und die letzten Nebelschwaden über den Feldern sogen die Geräusche auf. Jacob ergriff eine Handkarre, die vor dem Tor stehen geblieben war. Sie war halb gefüllt mit Kartoffeln und mit Rüben. Er nahm sie mit zur Zeltstatt und machte sich gleich an die Arbeit.

Er wusste nun, was seine Aufgabe war. Er würde das Feld bebauen, Kartoffeln und Rüben anpflanzen, und er würde die müden Wanderer bei ihrer letzten Rast vor der Gralsburg verpflegen, und er würde ihnen den Weg weisen.

Und die Kinder, die Frauen, die Bauern, die Handwerker und die Hirten würden ab und an vorbeikommen und ihn besuchen. Und sie würden ihm beim Lagerfeuer Geschichten erzählen, Legenden und Abenteuer aus der Gralsburg. Und er würde zufrieden in ihre Augen schauen.