Gleich kommt Oscar

 

Wer durch Mexiko-City’s Strassen schlendert, wird bald einmal durstig. Direkte Sonnenstrahlung, Hitze, Staub, trockene und verschmutzte Luft setzen den Atemwegen schnell zu. Meine Kehle ist davon nicht ausgenommen.

 

Ständig durstig fühlte ich mich bereits damals, als ich als Neuling in dieser Stadt stundenlang durch endlos scheinende Strassenzüge wanderte, „zur nächsten Strassenecke und dann abbiegen“, wie mir mein Stadtplan vorlog. Denn die nächste Strassenecke auf dem Stadtplan war in Wirklichkeit nicht die nächste, sondern die nächstgrössere. Und was auf dem Stadtplan wie die Distanz zwischen Bahnhof und Zytglogge aussah, war in Wirklichkeit die Distanz zwischen Bahnhof und Rosengarten. Vielleicht ohne die Steigung am Aargauerstalden. Mexiko-City ist nämlich mehrheitlich flach gelegen, auf dem Bett eines leergetrunkenen Sees erbaut.

Als ich zum ersten Mal zur Hausnummer 1883 der Insurgentes-Sur-Strasse musste, wollte ich zu Fuss hin gehen. Nach 15 Minuten war ich, bereits gerädert, ungefähr bei Hausnummer 342 angelangt, und dort stieg ich in ein Taxi.

Kurz darauf warf ich meinen zusammengefassten Stadtplan fort und kaufte einen richtigen, 1:30’000. Der Plan ist ein Buch. 45 A-4 Seiten mit Plänen. 68 A-4 Seiten alphabetisches Strassennamenregister. Die Insurgentes-Sur-Strasse ist etwa 20 Kilometer lang. Eine Bernstrasse gibt’s auch. Die weist etwa 200 m Länge auf. Passt massstabgetreu.

Von nun an wusste ich, wann ich zu Fuss gehen musste und wann nicht.

 

Trotzdem sind meine Ehefrau und ich auch heute kilometerweit zu Fuss unterwegs, zwischen Bus-, Metro- und Taxifahrten. Ungefähr bei Hausnummer 1985 der  Insurgentes-Sur-Stasse brauchen wir dringend eine Erfrischung, und glücklicherweise finden wir gleich bei Hausnummer 2037 ein Restaurant mit Gartentischen vor.

Auf dem Gehsteig vor dem Eingang zum Restaurant werden, wie überall in Mexiko-City, ‘Chicles’, Kaugummis, verkauft. Da wird ein Tuch auf dem Boden ausgelegt und die Ware darauf ausgebreitet.

„Cinco por cien“, hiess es jeweils, was „Fünf Stück für einhundert Pesos“ bedeutet.

Heute, nach Währungsreform und Abwertung, ist das jedoch anders. Billig sind sie aber weiterhin, die je nach Geschmack grünen, weissen, violetten und gelben Kaugummi-Tabletten. Und gerade die Kinder nehmen sie im Gemischtwarenladen gerne als Wechselgeld entgegen, wenn der Verkäufer gerade unter einem Kleingeld-Engpass leidet.

Der Strassen-Verkauf von ‘Chicles’ ist in Mexiko auch eine weitverbreitete und beliebte Alternative zum Betteln, gerade weil sie leicht zu transportieren sind für den Verkäufer und den Käufer, und weil sie billig sind.

 

Einmal wurden mir sogar sechs Päckchen für einhundert Pesos angeboten. Damals war meine Frau noch meine Freundin. Wir sassen verliebt in einem romantischen Park, als ein Knabe zu uns trat und uns ‘Chicles’ anbot.

„Kaufen Sie mir welche ab, sie sind günstig“, bat er. Aber ich hatte eigentlich etwas anderes vor, als ‘Chicles’ zu kauen. Gerade mit meinem Mund.

„Andale“, „Kommen sie schon“, bettelte er, sie seien doch so billig. Dabei spekulierte er darauf, dass ich ihm keine Absage erteilen würde, um bei meiner Freundin keinen schlechten Eindruck zu hinterlassen. Er schaute mich treuherzig an, und als auch meine Freundin fand, dass sie ‘àndale’, wirklich günstig seien, da kaufte ich welche. Sechs Stück für 100 Pesos waren schliesslich fast geschenkt. Da musste man einfach zugreifen. Vor allem dann, wenn man ein Mädchen bei sich hat und nicht schlecht dastehen will.

Ich wählte Kaugummi-Tabletten mit weisser und solche mit grüner Zuckerglasur. Weiss bedeutet ‘Hierbabuena’, das ist Pfefferminze, und grün bedeutet ‘Menta’, das ist auch Pfefferminze. Den Unterschied habe ich nie ganz begriffen, auch nicht nach eingehendem, stundenlangem Kauen. Aber für frischen Atem sorgten sie. Und der war mir ja gerade zu jenem Zeitpunkt besonders wichtig.

Ich bin noch heute froh darüber, dass ich damals zugegriffen habe.

 

Wir setzen uns also im Garten des Restaurants an einen Tisch, ich bestelle Süssmost, ‘Sidral’, meine Frau eine Cola, ‘Pepsi’.

Nach einer Weile tritt ein kleines, schmutziges Mädchen zu uns an den Tisch, um sich Geld zu erbetteln. Wir haben es vorhin schon gesehen, draussen auf dem Gehsteig. Es sass auf einer Stoffmatte und hat Chicles verkauft. Nein, Geld will ich ihm nicht geben, es ist unpädagogisch, hilft nichts und ich bin eh’ zu geizig. Aber ich biete ihm von meinem Süssmost an. Das Mädchen akzeptiert gerne, nimmt einen kräftigen Schluck durch den Strohhalm, erklärt uns dann klar und bestimmt „ahorita viene Oscar“, „gleich kommt Oscar“, und verschwindet.

Ich schaue meine Frau fragend an. Sie schaut fragend zurück. Was hatte das Mädchen wohl damit gemeint? Wer ist Oscar? Und was haben wir mit ihm zu tun? Ich kenne keinen Oscar! Notfalls würde ich alles abstreiten und behaupten, das Gegenteil sei wahr. Aber bald verstehen wir: Es kommt zurück, und führt sein vielleicht vierjähriges Brüderchen an der Hand. Es ist Oscar, ganz offensichtlich. Er hat auch Durst, und wie. Saugt toll am Strohhalm, leert die Flasche fast, hält aber plötzlich inne. Ein Anstandsrest? Nein, etwas hat Oscar unterbrochen.

Sein ‘Chicle’ klebt am Strohhalm. Es ist nicht mehr klar festzustellen, ob es ein grüner oder ein weisser war. Jedenfalls klaubt er ihn lachend mit seinen Fingerchen vom Plastikröhrchen und steckt ihn in den Mund zurück. Jetzt hat der Kaugummi bestimmt wieder an Fruchtgeschmack zugelegt und hält mindestens noch für eine oder zwei weitere Stunden.

 

Übrigens: Das Wort ‘Chicle’ leitet sich ab aus dem Begriff der Nàhuatl-Indianer ‘Chictli’, so nannten sie den Gummi, den sie aus dem ‘Chicozapote’, dem Gummi-Feigenbaum, gewannen. ‘Chicles’ haben schon die alten Azteken und Mayas gekaut.